1

Aslan rückte sein Kopftuch zurecht, um sicherzugehen, dass er nicht erkannt wurde.

Hin und wieder beäugten ihn einige Leute misstrauisch, während er sich durch die Massen im Yakuza Viertel schlängelte, aber bisher hatte ihn noch niemand erkannt.

War ihm nur recht. Vor Harukis Füßen zu landen, wollte er sich lieber sparen.

Zwei Herren in weiten Mänteln kamen ihm entgegen. Aslan wich ihnen aus, während sein Blick auf dem Arschloch im Nadelstreifenanzug vor ihm geheftet blieb.

Haruki Sato-Wagner war definitiv nicht der subtile Typ. Sein ätzend exakt geschnittener Anzug hob sich von den weiten Kimonos und Haoris ab, die die meisten Leute hier im Viertel bevorzugten. So, als ob er die Welt daran erinnern musste, dass er sich für was Besseres hielt.

Die Straße, auf der sie sich befanden, sah aus, als würde sie eher nach Japan gehören und nicht nach Hamburg. So ganz wusste Aslan auch nicht, wie die Yakuza es geschafft hatten ein gesamtes Viertel nach ihrem Geschmack zu gestalten, aber die Antwort lag wahrscheinlich wie immer bei Geld, Gefallen und Mord. Zahlreiche süße, kleine Läden säumten beide Seiten und stellten verschiedenste Waren zur Schau, von Haushaltsgeräten über Schmuck bis hin zu Elektrotechnik.

Es sah komplett anders aus als die Graffiti beschmierten Ruinen, in denen Aslan sich früher mit den anderen Dieben getroffen hatte. Auch wenn er sich das erste Mal für ihn war, sich allein in diesem Teil von Hamburg herum zu treiben, wusste er, dass er hier nichts mitgehen lassen sollte. Im Verlaufe seiner Nachforschungen über Haruki hatten einige Leute gegen Geld zugegeben, dass alle Shops mehr hinter ihren Fassaden versteckten, als ihm lieb war. Geldwäsche, Waffen, Geheimnisse. Die ganze Straße war gebaut, um schmutzige Nuyen in sauberes Geld zu verwandeln. Die Yakuza hatten diesen Prozess perfektioniert.

Und genau deswegen konnte ihm auch keiner erklären, dass Haruki nur hier war, um seine Wochenendeinkäufe zu erledigen. Er führte etwas im Schilde.

Meta-menschen aller Art, egal ob Orks, Elfen oder Menschen, warfen Haruki Blicke zu, wenn er vorbeikam.

Aslan wusste, wie Leute dreinschauten, die einen erkannten. Als Dieb war das meistens sein Signal, um zu verschwinden.

Er duckte sich unter dem Arm eines Orks hindurch, der mehrere Pappkisten mit verschiedensten Kabeln auf beiden Schultern transportierte und bekam gerade noch mit, wie Haruki vor einem Laden stehen blieb.

Das Gebäude fügte sich so perfekt in der Masse von Kleinläden ein, dass man es leicht übersah. Über dem Eingang prangte in grünem Neon irgendein japanisches Zeichen, was Aslan merkwürdig bekannt vorkam, allerdings konnte er nicht sagen, woher.

Haruki verschwand im Gebäude. Eine Glocke über der Tür verkündete seine Ankunft.

Aslan folgte ihm bis zum Schaufenster.

Kleine Kuchen und Teekannen standen in verschiedenen Arrangements in der Auslage. Ein Café also. Das erkläre, woher er das Zeichen kannte. Er konnte schwören, es schon einige Male auf verschiedensten Flaschen im Getränkeautomaten gesehen zu haben.

Zwei Männer standen vor der Tür und schauten gelangweilt drein. Sie beäugten ihn für einen Moment, ließen aber von ihm ab, sobald er sich zum Schaufenster drehte und so tat, als würde er das Angebot betrachten.

Auch wenn die beiden Männer am Eingang so taten, als ob sie gerade eine Pause einlegten, schaute eine Panzerweste unter dem Kragen des einen Mannes hervor. Der versteckte seine schwere Pistole derartig schlecht am unteren Rücken, dass Aslan sich fragte, warum die Polizei ihn noch nicht durchsucht hatte. Seine Bomberjacke wölbte sich zu auffällig darüber.

Aslan warf einen schnellen Blick in das Innere des Cafés.

Es imitierte mehr schlecht als recht einen traditionellen japanischen Stil. An der linken Seite des Raumes führte eine Treppe nach oben zu einer Galerie. Zahlreiche geschlossene Türen säumten den Gang. Der untere Teil des Gebäudes bildete den Hauptraum. Billige Polyester Kissen lagen auf dem Boden zwischen niedrigen Tischen und Plastik Bambus. Von der Decke rieselten AR Kirschblüten.

Aslan erinnerte sich an das Restaurant, indem Haruki sich mit ihm und Rarr getroffen hatte. Sowohl sein Teamkollege als auch er hatten sich komplett fehl am Platz gefühlt bei dem Gespräch, womit Haruki, der Angeber, wohl genau erreicht hatte, was er wollte.

Im Gegensatz dazu wirkte Haruki hier fehl am Platz, mit seinen sauber gegelten Haaren und seinem auffällig blauen Katanga auf dem Rücken.

Bei ihrem letzten Gespräch hatte Haruki ihm und Rarr den Auftrag erteilt, seinen Ehemann Tim vom Proteus Firmengelände zu “retten”, zumindest hatte er es so bezeichnet.

Aslans Blut begann zu kochen, wenn er nur daran zurückdachte.

Er hatte sich eh schon gefragt, wie armer, naiver Tim zu einem Ehemann bei den Yakuza gekommen war. Seit Tim erwähnt hatte, dass er Angst vor Haruki hatte, ärgerte sich Aslan immer noch darüber, Harukis Motivationen nicht früher hinterfragt zu haben. Er hätte es sehen müssen, dass Haruki sie hintergehen würde. Dass er etwas im Schilde führte.

Execs wie er kümmerten sich immer nur um sich selbst.

Er hätte sofort Verdacht schöpfen müssen.

Gerade nach dem letzten Mal. Anscheinend hatte er nichts dazugelernt. Der letzte Auftraggeber, dem er zu sehr vertraut hatte, hatte ihm alles genommen, nur weil er zu dumm gewesen war, um sein merkwürdiges Verhalten zu hinterfragen. Den Fehler würde er sicher nicht noch einmal machen. Warum auch immer Haruki sich so merkwürdig verhielt, er würde es herausfinden.

Im Inneren des Cafés trat Haruki an einen älteren Mann heran. Er verbeugte sich und schüttelte seine Hand.

Der Mann trug einen zu kleinen Anzug für seinen kräftigen Körperbau und stach damit zwischen den anderen Café-Mitarbeitern hervor, die alle in Kimonos gekleidet waren. Auf seinem kahlen Kopf glänzte Schweiß und Altersflecken.

Er deutete auf einen Tisch, und beide nahmen Platz.

Die beiden Wachen am Eingang warfen Aslan fragende Blicke zu. Zeit zu gehen. Er nickte ihnen zu und drehte sich um.

Durch den Vordereingang wär er eh nicht gekommen. Auch wenn die anderen Yakuza Mitglieder keine Ahnung hatten, wer er war, würde Haruki ihn erkennen. Sein Kopftuch mochte seine, selbst für einen Elfen, übergroßen Ohren verstecken, aber Haruki kannte sowohl das dunkelgrüne Kostüm, was Aslan in höheren Kreisen trug, als auch seinen dunklen Urban-Explorer-Overall. Und andere Kleidung besaß er nicht.

Wenn er auch nur einen Schritt in dieses Café machte, würde es keine zwei Sekunden dauern, bis er eine Pistole am Kopf oder eine Klinge am Hals hatte.

Aber es gab immer mehrere Wege in ein Gebäude, und glücklicherweise hatte er Übung.

Wenn auch immer Haruki hinter den den Kulissen plante, er würde mit anderen Yakuza Mitgliedern zusammenarbeiten, und persönliche Meetings hinterließen keine Spuren.

Natürlich hatte Aslan keine Beweise. Noch nicht. Aber er hatte Haruki seit ein paar Tagen beschattet, bis er Silencers Hackerfähigkeiten in Anspruch genommen hatte.

Für den entsprechenden Preis konnte er Harukis Kommlink orten, und dieser Ort war einfach zu auffällig.

Aslan ging an der Seite des Cafés entlang. Die Hausfassaden zu beiden Seiten standen so eng, dass seine Schultern die Betonwände streiften.

Ein hoher, blickdichter Zaun umgab die Rückseite. Wenn er sich auf die Zehenspitzen streckte, konnte er neben dem Gebäude einen kleinen, verlassenen Hinterhof erkennen, zusammen mit einem leeren Koi Teich und verdorrtem Gras.

Ihm fiel ein schräges Garten-Vordach am oberen Stockwerk des Cafés auf. Es hing tief genug, dass Aslan mit Leichtigkeit den Zaun hinauf und dann über das Dach zu einigen blickdicht verklebten Fenstern klettern konnte. Mit etwas Glück war der Raum dahinter sogar leer. Vielleicht konnte er von hier in das Café hineinkommen, um Haruki und seinen Begleiter zu belauschen.

Vielleicht würde er auch entdeckt werden und eine Kugel in den Kopf kassieren. Mal sehen.

Aslan dachte an Tims Gesicht zurück, als er über Haruki geredet hatte. An die tiefe Trauer und Sorge, die über seine weichen Gesichtszüge lag. Tims Schultern waren die gesamte Zeit angespannt gewesen, und der sonst so naive und gutgläubige Ton war komplett aus seiner Stimme verschwunden.

Fast wünschte Aslan sich, dass er nicht recht hatte, dass er sich irrte, aber er wusste auch, dass Haruki genau dem Typ entsprach, der einem Integrität vorgaukeln konnte.

Immerhin war das sein Job als Anwalt. Das hätte Aslan als aller Erstes auffallen müssen.

Der Ares Johnson, der ihm damals sein eigenes Himmelfahrtskommando angedreht hatte, war genau vom gleichen Schlag gewesen. Ein lockeres Lächeln auf den Lippen und in den Stuhl zurückgelehnt, als hätte er nichts zu verlieren.

Aslan hatte sich immer gefragt, warum die anderen Diebe aus seinem Netzwerk genau vor diesem Mann immer gewarnt hatten. Auf den ersten Blick hatte er nicht furchteinflößend gewirkt.

Und Aslan hatte in dem Moment alle Warnungen in den Wind geworfen, als sein Auftraggeber von nicht verzeichneten Wohnungen berichtete. Richtige Wohnungen mit warmem Wasser und Strom und einer Heizung. Wenn Aslan sich gut anstellte konnte er etwas aushandeln. Vielleich war ja sogar Gesundheitsversorgung mit drin.

Und Aslan hatte ihm geglaubt.

Mit fatalen Folgen. Er war gerade so mit dem Leben von einem Einbruch davon gekommen, nur um das Diebesnetzwerk in Trümmern vorzufinden. Seine Kameraden mussten ihr Versteck zerstören. Der beißende Geruch von Rauch und Feuer stieg ihm in die Nase. Er erinnerte sich an die Reaktionen seiner Freunde, hörte Halima seinen Namen schreien und spürte Katsuos Schlag ins Gesicht. Er erinnerte sich an Ivory, die das erste Streichholz ins Benzin warf und ihre Augen, als sie sich umdrehte. Die Flammen, die langsam ihr Zuhause zerfraßen, und die Lichter der Knight Errant Polizeiwagen, in denen seine Familie abtransportiert wurde.

Aslan schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Sein Atem hatte sich von allein beschleunigt und seine Hände zitterten. Er konzentrierte sich auf den Rhythmus seines Brustkorbes, wie er sich hob und senkte. Ein klarer Kopf war das wichtigste bei jedem Einbruch, und wenn er herausfinden wollte, was Haruki verheimlichte, musste er ruhig bleiben.

Der Geruch von Benzin blitzte ihm noch einmal durch den Kopf.

Er schüttelte die Erinnerung ab und fokussierte sich auf den Weg nach oben zum Fenster. Vor der Ares Mission hatte er nie ein Problem mit den Nerven gehabt, aber seit dem reagierte er viel zu schnell auf alles.

Aber das konnte ihn nicht aufhalten. Er musste einfach wissen, ob Haruki die Wahrheit sagte. Er würde nicht noch einmal den gleichen Fehler machen, sich ein zweites Mal hinters Licht führen lassen.

Mit einem Satz kletterte er über die Mauer. Was sollte schon schief gehen?

2

Das Glück schien auf seiner Seite zu sein. Aslan schlüpfte lautlos durch das Schiebefenster in ein Zimmer.

Es war lächerlich, wie einfach er das Fensterschloss geknackt hatte und jetzt, wo er den Raum sah, verstand er auch warum.

Anscheinend handelte es sich um ein lieblos eingerichtetes Büro. In der Mitte des Raumes stand ein schwerer Metalltisch. Der Bürostuhl dazu zeigte mit dem Rücken zum Fenster, und auf der Tischoberfläche stand ein Monitor, der wahrscheinlich älter als Aslan selbst war.

Regale säumten die Wand zu seiner Linken mit einer Mischung aus Festplatten und Büchern, allesamt mit unlesbarer japanischer Beschriftung. Zwischen einigen Büchern standen kleine Modellschiffe und Anker-förmige Buchstützen. An der anderen Wand hingen einige nette Bilder von Kranichen und dekorative Kurzschwerter.

Ein Blick an die Decke bestätigte seinen Verdacht, dass niemand für so einen Raum Kameras verschwenden würde. Nicht verwunderlich, so alt wie die Technik aussah. Und selbst wenn er sich, irrte, konnte er wahrscheinlich trotzdem schnell genug wieder verschwinden, bevor jemand etwas mitbekam.

Er verschwendete keine Zeit und schaltete aus Gewohnheit den PC an. Vielleicht ließ sich ja trotzdem etwas auf der Festplatte finden. Wenn schon nicht über Haruki, dann vielleicht andere sensible Daten, die er verkaufen konnte. Bei den Preisen, die Silencer inzwischen verlangte, brauchte er das Geld.

Der PC wachte nur langsam aus dem Stand-by Modus auf und fragte nach einem Passwort.

Wer auch immer hier arbeitete, legte niemals sonderlich viel Wert auf gute IT-Sicherheit. Das war der PC nicht wert.

Aslan wühlte durch den Kabelsalat und verschiedenste Steckdosen, die auf dem Schreibtisch verteilt lagen, und fand einen Zettel mit japanischen Schriftzeichen.

Er öffnete das Übersetzungsprogramm seines Kommlinks und hielt die Kamera darüber. Das Programm spuckte ihm “Matcha” als Übersetzung aus.

Kaum hatte er die Buchstaben eingetippt, entsperrte sich der Monitor.

“Der beste Datenschutz, den sich die Yakuza leisten konnten.” Er schüttelte den Kopf.

Wenn er mitbekommen wollte, was Haruki und der Mann besprachen, würde er sich beeilen müssen. Dass der PC Ewigkeiten für die einfachste Berechnung brauchte, hatte er nicht eingeplant.

Dem Chaos auf dem Desktop nach zu urteilen, würde er eh nicht viel finden. Es sah aus wie das digitale Äquivalent von jemandem, der einen Papierstapel auf den Boden geschmissen hatte.

Er öffnete die Suchzeile und tippte die Worte “Haruki Sato-Wagner” ein. Der PC würde eh Zeit brauchen, um etwas zu finden.

Dann schlich er zur Tür.

Er öffnete sie einen Spalt. Niemand in Sichtweite.

Ein langer Gang lag vor ihm mit mehreren Türen auf der rechten Seite. Auf der Linken trennte ein Geländer die Balustrade vom Hauptraum ab. Aslan erkannt die Treppe am anderen Ende des Flurs wieder, die zu ihm nach oben führte.

Ein weiterer Blick an die Decke bestätigte, dass es keine Kameras gab.

Er schlich zur Kante der Wand, hinter der das Geländer begann, und warf einen Blick hinunter in das Café.

Die Zahl der Besucher hatte sich inzwischen erhöht. Männer, Frauen und andere mit deutlich sichtbaren Tattoos an allen Körperteilen saßen an verschiedene Tische verteilt. Hier, in der Sicherheit des Cafés, stellten viele ihre Körperbemalung mit tiefen Ausschnitten, kurzen Tops oder Röcken zur Schau. Tattoos waren zwar nicht Aslans Geschmack, aber an anderen sahen sie trotzdem cool aus. Selbst Haruki hatte sich seines Jacketts entledigt und trug die beiden Drachen an seine Armen offen. Aslan wollte schon mit den Augen rollen. Natürlich trug er Drachen. Neben Haruki lag sein Katanga. Das Gleiche, was er Aslan bei ihrer allerersten Begegnung schon einmal an den Hals gehalten hatte. Eine Situation, die man nicht wiederholen musste, wenn es nach Aslan ging.

Die beiden Männer saßen immer noch am gleichen Tisch. Der Ältere trank aus einer kleinen Porzellantasse, die in seinen großen Händen lächerlich winzig aussah. Die gleiche Tasse stand auch vor Haruki, aber wie ein richtiger Snob fasste er sie natürlich nicht an.

Aslan wünschte sich in diesem Moment, dass er sich Ohrstöpsel mit Geräuschfilter leisten konnte. Über dem allgemeinen Gemurmel des Cafés konnte er kaum etwas verstehen. Nicht, dass Haruki viel redete. Er sah eindeutig unglücklich aus, aber Aslan hatte ihn auch noch nie in einer anderen Gefühlslage gesehen. Vielleicht war das auch einfach sein Gesicht.

Eine Frau trat an die beiden heran. Sie trug einen schwarzen Anzug mit einem Oberteil ähnlich eines Kimonos, und ihr knallroter Eyeliner leuchtete selbst bis zu Aslan hinauf.

Sie beugte sich zu Harukis Gesprächspartner hinab und murmelte ihm etwas ins Ohr. Dabei fiel der Kragen ihres Oberteils zur Seite und ließ auch bei ihr eine Panzerweste erkennen. Zusammen mit ihren kräftigen Oberarmen und dem Fakt, dass sie, gefühlt als Einzige hier im Café, keine offensichtlichen Waffen trug, ließ Aslan auf Leibwächterin zurück schließen. Wer wusste, was sie an Vercyberungen trug.

Wenn er mehr über das Gespräch erfahren wollte, würde er näher an den Tisch herankommen müssen. Es erhöhte auch die Gefahr, entdeckt zu werden, aber im Notfall konnte er immer noch improvisieren. Er musste es nur irgendwie unauffällig die Treppe hinunter schaffen.

Gerade als er sich noch ein Stück vorbeugte, um mögliche andere Wege nach unten zu erkennen, kreuzte sich sein Blick mit dunklen Augen, die ihn unter knallrotem Lidstrich hervor anstarrten.

3

Aslan schloss die Tür hinter sich und fluchte. Das Büro hatte keinen Schlüssel von innen. Er eilte zum PC. Dieser zeigte nur eine einzige Datei an. Ein Datenbankeintrag.

Aslan warf einen Blick zur Tür und öffnete die Datei. Im gleichen Zug griff er an seine linke Schläfe und drückte auf das kleine Plättchen in der Mitte seines Datenschlosses. Der Mechanismus klappte auf, und er zog das dazugehörige Universal-Datenkabel heraus. Während er das Kabel mit einer Hand reinsteckte, überflog er die Datei.

So schnell konnte er zwar keinen Hinweis auf Tim finden, aber eine Gruppierung roter Buchstaben stach ihm ins Auge.

“Haruki Sato-Wagner, 41, verheiratet, Status: Suspendiert”.

Aslan zog die Augenbrauen zusammen. Mit ein Paar Klicks sendete er die Datei an sein Datenschloss. Warum war Haruki von den Yakuza suspendiert worden?

Schritte kamen vor der Bürotür zum Stehen.

Er schloss hastig das Dokument und verschwand unter dem Bürotisch. Wenigstens stand der Tisch in typischer Angeber-Manier so, dass man direkt zur Tür blickte. Und glücklicherweise trennte eine Metallplatte die Sicht zwischen Eingang und Bürostuhl, denn natürlich brauchte der PC auch ewig, um eine einzige Datei zu übertragen.

Die Tür klickte zu.

Im Halbdunkel vom Tisch sah Aslan, wie orange LED an der Seite seines Kopfes noch blinkte, die Anzeige wie weit seine Übertragung war.

Jemand kam um den Tisch herum gelaufen.

Viel Zeit blieb nicht. Es gab keine Option, dass er nicht entdeckt wurde, aber mit etwas Glück konnte er vielleicht das Überraschungsmoment nutzen und entkommen. Er konnte an der Person vorbei durch ein Fenster springen und von da an über die Dächer fliehen. Die wenigsten Leute konnten ihm so folgen. Und er entkam lieber mit weniger Daten und mehr Gliedmaßen als anders herum. Leicht verletzt konnte er später immer noch herausfinden, warum Haruki suspendiert wurde.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Richtung der Schritte. Sie kamen von links, also musste er durch das rechte Fenster verschwinden.

Das Licht seiner LED erlosch. Sein Startkommando.

Mit aller Kraft sprang er unter dem Schreibtisch hervor und riss die Arme vors Gesicht, um sich vor Splittern zu schützen.

Etwas prallte in seine Seite. Statt durch das Fenster zu springen, schlug er gegen die Wand. Einige eckige Festplatten regneten auf ihn hinab, und er riss aus Reflex die Arme über den Kopf.

Die Frau mit dem roten Eyeliner tauchte vor ihm auf und versetzte ihm einen Schlag in den Magen, der sämtliche Luft aus ihm herauspresste. Ihre andere Hand griff nach seinem Handgelenk und versuchte, ihm den Arm auf den Rücken zu drehen.

Sie war schnell, aber Aslan war schon öfter bei Einbrüchen erwischt worden. Er legte den Daumen seiner Hand an und zog in einer schnellen Bewegung seinen Arm aus dem Griff.

Für einen Moment schaute die Frau ihn geschockt an.

Aslan nutzte den Moment, um Abstand zwischen sie beide zu bringen.

Im Bruchteil einer Sekunde fasste sie sich wieder und stellte sich zwischen ihn und das Fenster.

Bei ihrer Geschwindigkeit trug sie wahrscheinlich einen Reflexbooster.

Aslan besaß keine Vercyberungen, die da mithalten konnten.

Er konnte es mit Stärke versuchen und darauf hoffen, dass sie ihn mit seiner schmalen Statur unterschätzte.

Ein Satz nach vorn und seine Faust zielte auf ihr Gesicht. Sie blockte den Schlag und warf ihm ihre eigene Faust entgegen. Genau was er wollte.

Er griff ihr Handgelenk und packte auch ihren anderen Arm, um sie ihr auf den Rücken zu drehen.

Zumindest war das sein Plan gewesen. Sie bewegte sich kein Stück.

Ein Stahlkappenstiefel traf die Vorderseite seines Schienbeins. Der Schmerz jagte ihm Tränen in die Augen. Er schaffte es gerade noch, nach hinten zu stolpern und einem Tritt gegen den Kopf auszuweichen, indem er auf den Boden fiel.

Auch wenn in den Schatten das Gerücht umging, dass die Yakuza einen gewissen Ehrenkodex was faire Kämpfe anging und auch wenn das eine bewundernswerte Einstellung war, entschied Aslan in diesem Moment, dass er da nicht mitmachen würde.

Er rollte sich zur Seite und zog sein Messer. Ein Schnitt mit dem Nervengift Narcoject, was die Klinge bedeckte, und seine Gegnerin würde zu Boden gehen. Das Gift würde sie nicht verletzen, nur ohnmächtig machen. Das war seine einzige Chance. Außerdem war er besser mit der Klinge als mit den Fäusten, und sie trug keine Waffen.

Sie musste den gleichen Gedanken haben. Ihre dunklen Augen bewegten sich kurz zur Seite. Zu den Kurzschwertern an der Wand.

Aslan verfluchte sich innerlich, dass er sie nur für Deko gehalten hatte, aber ihm blieb nicht viel zeit für Ärger.

Sie griff nach einem Schwert und schoss auf ihn zu. Aslan fühlte die Klinge an seinem Ohr vorbeisausen.

Er versuchte es erst gar nicht, sich gegen sie zu verteidigen. Sein Kampfmesser hatte keine Chance gegen ein Kurzschwert. Er warf sich in einer Rolle nach vorn, wich einem weiteren Hieb aus und versuchte, erneut durch das Fenster zu entkommen, doch ein Arm wand sich um seine Mitte und warf ihn zu Boden.

Er konnte gerade noch einen dunklen Umriss und wütende Augen ausmachen.

Dann traf ihn eine Faust, und alles wurde schwarz.

4

Aslan fragte sich oft, welche Lebensentscheidungen ihn diesmal in Schwierigkeiten gebracht hatten, aber diesmal war es gar nicht so einfach wie sonst, einen einzigen Punkt zu bestimmen.

Es mochte das Treffen mit Haruki in dem japanischen Restaurant gewesen sein, bei dem er erklärt hatte, dass sie Tim vom Proteus Firmengelände bringen sollten, damit er vor deren komischen Naniten-Experimenten sicher war.

Oder es war der Moment, als sie auf Tims Einwand gehört hatten, dass er vor Haruki, seinem eigenen Ehemann, Angst hatte. Statt ihn Haruki zu übergeben, hatten sie ihm eine falsche Identität in England besorgt.

Den Moment, als Tim allein in seinen Flieger stieg, während Aslans Kommlink in seiner Hosentasche durch Harukis wütenden Nachrichten dauervibrierte, würde er wohl bis an sein Lebensende nicht vergessen.

Und ganz konnte er es Haruki auch nicht verübeln, dass er dadurch nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen war.

“Die letzte Suchanfrage betraf Herrn Sato-Wagner.”

Aslan registrierte die Frauenstimme, bevor er den Schmerz in seinen Rippen und das Pochen in seinen Handgelenken bemerkte. Ganz vorsichtig atmete er tief ein und konzentrierte sich auf seine Rippen. Ein dumpfer Schmerz schwoll langsam und stetig mit seinem Atem an wie ein Daumen, der immer fester auf einen blauen Fleck drückte. Immerhin stach nichts, das war ein gutes Zeichen. Sein Bein war schon eine andere Sache. Er spürte seinen Herzschlag an der Vorderseite pochen.

“Die Wachen draußen haben ebenfalls bestätigt, ihn gesehen zu haben.”

“Danke, Hana. Vorbildlich wie immer.” Die zweite Stimme gehörte einem Mann, aber nicht Haruki. Es klang nach jemand älterem, aber der starke Akzent machte es schwer, einen Eindruck zu bekommen. Wahrscheinlich der Mann, mit dem sich Haruki getroffen hatte.

Handschellen schnitten Aslan in die Handgelenke, und seine Ellenbogen hingen über der Lehne eines Stuhls fest. Er musste verschwinden, bevor Haruki ihn fand. Es war schlimm genug, dass er erwischt wurde, aber wenn Haruki herausfand, dass er ihm hinterherspioniere, dann würde er ihm mit Freude die Kehle durchschneiden. Wenn er nett war.

Aber er konnte es nicht mit Haruki und der Leibwächterin gleichzeitig aufnehmen und schon gar nicht gefesselt.

Der Mann summte leise vor sich hin. “Weiß Herr Sato-Wagner, dass nach ihm gesucht wurde?”

“Sir?” Es entstand eine kurze Pause. “Nein. Ich habe zuerst sie verständigt, Sir.”

“Danke, Hana.”

Aslan gab sich größte Mühe, sich möglichst nicht zu bewegen.

Wenigstens hatten sie noch nicht direkt Haruki gerufen, also wussten sie wahrscheinlich nicht, dass Haruki nach ihm und seiner Crew fahndete.

Wenn er es irgendwie schaffte zu entkommen, bevor Haruki aufkreuzte, konnte er vielleicht noch mal heil hier rauskommen. Tot würde er auch nicht rausfinden, was Haruki verheimlichte. Was er brauchte, war eine Ablenkung, damit nicht auffiel, dass er sich seinen Handschellen entledigte. Er war gelenkig genug, um aus den Handschellen zu kommen, aber die Geräusche waren ein Problem.

Gerade als er die Augen aufschlagen wollte, fuhr der Mann fort. “Mach dich bereit.”

Aslan erstarrte.

“Wir wollen ja immerhin nicht, dass sich unser Einbrecher hier losmacht und zufälligerweise jemanden erwischt. Wie sein Ziel, Herr Sato-Wagner zum Beispiel.”

Erneut trat eine Pause ein, bevor Hana widerwillig antwortete. “Jawohl, Sir.”

Aslan hatte nicht vor, Haruki etwas anzutun. Noch nicht. Je nachdem, was seine Recherchen ergaben, konnte sich das womöglich auch noch ändern, aber im Moment hatte er mehr Sorge davor, dass Haruki ihm etwas antat als andersherum. Egal was diese beiden vorhatten, er würde niemandes Marionette spielen.

“Ich werde unserem Gast von dem Einbruch berichten. Wir sollten gleich zurück sein.”

Die Tür zum Büro schloss sich und Hana Schritt zur anderen Seite des Raums. Ein kurzes Piep Geräusch ertönte und etwas rollte über den Boden.

Aslan schlug die Augen auf.

Hana hatte ihm den Rücken zugedreht.

Eine einzige Festplatte leuchtete rot im obersten Fach. Die untersten zwei Regalfächer standen hervor. Jemand hatte geheime Schubladen mit Büchern und Festplatten getarnt. Hana beugte sich über eine der Schubladen und zog einen Revolver hervor.

Aslan wurde schlecht.

Sie zog mehrere Messer, Munition, Stim-Patches und ein Paar Handschuhe aus den Fächern und versteckte den Großteil davon in ihrem Anzug.

Er musste die Handschellen loswerden und abhauen, bevor Haruki hier eintraf. Aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher, wer von beiden die größere Gefahr darstellte. Haruki konnte er wenigstens noch körperlich überwältigen, wenn er Glück hatte, aber bei ihrer Geschwindigkeit bezweifelte er, ob er das Fenster rechtzeitig erreichen würde. Nicht ohne eine Ablenkung. Und schon gar nicht mit seiner Beinverletzung.

 Er bewegte seinen kleinen Finger und fuhr damit sachte die Kontur seines Kampfmessers nach. Wenigstens hatte sich niemand die Mühe gemacht, es ihm abzunehmen. So leicht wie Hana ihn ausgeschaltet hatte, brauchten sie das auch nicht.

Hana griff nach der Festplatte und drückte sie sanft zurück in Position. Ihre Arme waren lang genug, dass sie das oberste Fach des Regals erreichen konnte, ohne sich auf die Zehenspitzen zu stellen.

Er schloss die Augen wieder, bevor sie sich zu ihm umdrehte.

Kurz darauf hörte er wieder Schritte.

Aslan konzentrierte sich wieder auf seinen Atem, auf die gleiche Weise, wie seine Mutter es ihm früher beigebracht hatte, damit seine Hände aufhörten zu zittern. Auch wenn er nie der größte Fan von Meditationsübungen gewesen war, war er jetzt froh, dass seine Mutter ihn dazu gezwungen hatte. Er bekam damit seine Panik vor dem, was Haruki wohl mit ihm machen würde, ein wenig unter Kontrolle.

Die Tür knallte auf und Harukis kalte Stimme schnitt durch den Raum. “Wo ist er?”

Und schon war die Panik wieder da.

Zwei feste Schritte kamen auf ihn zu, dann traf Aslan etwas im Gesicht.

Seine Wange glühte heiß. Aslan schlug die Augen auf.

“Alter, hast du mir grad eine gescheuert?”

“Gib mir einen guten Grund, warum ich dir nicht sofort die Kehle durchschneiden sollte!”

Haruki stand über ihm und verengte die Augen.

Aslan tat sein Bestes, seinen Kopf so hoch wie möglich zu halten, wenn er schon an diesen dummen Stuhl gefesselt war.

Der Mann im Hintergrund lachte. “Ich nehme an, ihr kennt euch bereits?”

“Kann man so sagen.” Harukis Mundwinkel zuckten. “Danke, Maekawa. Ich schulde dir was.”

Aslan sah, wie Hana etwas aus ihrem Anzug zog, und Haruki, der Idiot, starrte Aslan immer noch an, als hätte er gerade seine Mutter beleidigt.

Ihm schoss kurz der Gedanke durch den Kopf, dass sich einige seiner Probleme lösen würden, wenn er einfach zu ließ, dass Haruki erwischte wurde. Aber er wollte sich auch selbst noch im Spiegel ansehen können.

“Pass auf!”

Hana schnellte vor. Sie zielte auf Harukis Hals.

Haruki drehte sich gerade so zur Seite und ihr Kurzschwert verfehlte.

Maekawa nahm ein Paar Schritte zurück und beobachtete den Kampf mit neutralem Desinteresse.

Haruki keuchte auf. “Was…?” Er zog sein Katanga in einer fließenden Bewegung vom Rücken und schaffte es gerade so, Hanas nächstem Angriff auszuweichen.

Sie arbeitete in kurzen, stechenden Bewegungen, während Haruki kontrolliert auswich oder parierte.

Zeit abzuhauen. Aslan nutzte die Ablenkung und zog seine Hände aus den Handschellen. Im Kampf ging das Klimpern der Ketten zum Glück unter. Festplatten fielen auf den Boden, es krachte Holz. Er bekam nur die hälfte des Geschehens mit.

Einen Blick zum Fenster stellte ihn vor das nächste Problem. Maekawa stand mitten im Weg.

Aber Aslan hatte das Überraschungsmoment.

Seine Hand fand sein Messer. Er sprang auf Maekawa zu.

Dieser riss erst die Augen auf und dann die Hände nach oben ohne Zweck.

Aslan schnitt ihm direkt durch den Anzug in den Arm.

Maekawa fluchte und hob noch die Fäuste, aber eine Berührung mit Narcoject würde reichen.

Nur blieb Maekawa stehen.

Eine Faust traf Aslan in die Seite, genau dort, wo er ein Geheimfach zwischen den Rippen trug. Etwas knackte, und er betete, dass es nur der Metalldeckel war.

Die Wucht riss ihn von den Füßen, und er sah Sterne beim Aufprall.

Maekawa ging zu Boden.

Anscheinend brauchte das Gift länger bei größeren Typen. Gut zu wissen.

Von der anderen Seite des Raumes ertönte ein Schrei. Harukis Katana knallte aufs Parkett. Er hielt sich eine Schulter. Über seine Finger strömte Blut.

Er stand mit dem Rücken zur Wand, Hana direkt vor ihm.

Sie selbst hielt sich die Seite, aber an ihrer Klinge klebte Blut.

Jeder Atemzug von Aslan schmerzte. Seine Rippen fühlten sich an wie gebrochen. Niemals konnte er jetzt noch über die Dächer entkommen. Springen und rennen stand außer Frage. Fast hätte er laut losgelacht. Also musste er ausgerechnet auf Haruki setzen. Super.

“Hey!”

Aslan rappelte sich auf die Füße. Er steckte seinen Dolch in die Scheide, um eine zweite Ladung Narcoject auf die Klinge zu bekommen.

Hana riss ihrem Kopf herum. Ihre Augen weiteten sich, als sie Maekawas Form am Boden bemerkte.

Sie bewegte sich so schnell, dass Aslan ihrem ersten Schlag nur durch Glück auswich. Beim Zweiten machte sie sich bereit, bevor Aslan erneut sein Messer ziehen konnte.

Eine Festplatte segelte durch die Luft und traf Hanas Hinterkopf. Sie verfehlte den Schlag.

Haruki stand mit ausgestrecktem Arm wieder auf den Beinen und funkelte Hana an. Sein Katanga lag wieder in seiner der Hand, aber es sah falsch aus. Blut verschmierte seine Finger, und er griff mehrfach nach, so als ob ihm der Griff jederzeit aus den Fingern gleiten konnte.

Sein Blick kreuzte Aslans. Ein kurzes Nicken und Aslan verstand. Wenigstens waren sie sich einig, dass sie allein keine Chance hatten.

Hana machte einen Schritt aus der Position zwischen ihnen heraus.

Aslan nickte Haruki zu und zog sein Messer.

Haruki hob sein Katanga.

Auf ein unausgesprochenes Zeichen stürzten sie sich wieder in den Kampf.

Hana zielte zuerst auf Haruki. Sie packte ihn und nutzte ihn als Schild.

Aslans Messer verfehlte Harukis Schläfe nur knapp. Haruki verlor das Schwert aus den glitschigen Fingern und fluchte.

Hana rammte Haruki gegen den Schreibtisch.

Aslan dachte nicht groß nach. Er sprang vorwärts.

Seine Knie schrien auf vor Schmerz, als er über das ruinierte Parkett rutschte.

Er traf Hana an der Wade.

Sie mochte eine Panzerweste tragen und zuschlagen wie ein Urban Brawler, aber die meisten Muskelpakete vergaßen immer ihre Beine zu panzern.

Hanas Griff um Haruki ließ nach. Sie sackte erst auf die Knie und dann vorn.

Haruki glitt ebenfalls zu Boden.

Er keuchte und ließ den Kopf gegen die Rückseite des Schreibtischs sacken.

Sein Anzug hing in fetzen, und schwarze Strähnen hingen ihm ins Gesicht. Die Wunde an seiner Schulter hatte Blutspritzer über die Seite von seinem Hals verteilt.

“Du hast einiges zu erklären.”

Aslan nickte. Ihm ging es nicht besser. Ihm war übel vor Schmerz und sein Körper zitterte unkontrolliert vom Adrenalin. Über den Zustand seiner Rippen wollte er lieber nicht nachdenken.

“Ich weiß, du auch.”

5

“Hier.” Aslan nahm sein Kopftuch ab und drückte es auf Harukis Wunde. “Um die Blutung zu stoppen.”

“Ich weiß, wie man Wunden behandelt.” Haruki rollte mit den Augen.

Für jemanden, der aussah, als würde er jede Sekunde umkippen, hatte er immer noch eine ziemlich große Klappe. Schweiß bildete sich auf Harukis Stirn, und seine Augen fokussierten immer mal wieder nicht.

Aslan stand auf und rollte Hana auf den Rücken. Er durchsuchte ihren Anzug nach den Stim-Patches, die sie vorhin eingesteckt hatte, und kehrte zu Haruki zurück.

“Halt still.” Er drückte das Stim-Patch auf Harukis Unterarm.

Dieser zuckte zusammen, aber sagte nichts.

Aslan seufzte. “Also. Wir sitzen fest.”

Statt zu antworten, beobachtete Haruki ihn misstrauisch. “Woher…?”

Irgendwie wusste er auch so, was Haruki meinte. “Die beiden dachten ich wär noch ohnmächtig.”

“Ah.” Haruki setzte sich aufrechter hin. Mit jedem Moment sah er besser aus. “Denk nicht, dass ich dir danken werde.”

“Hab ich auch nicht erwartet.” Aslan verengte die Augen. “Du hast es also geschafft, deine eigenen Leute gegen dich zu wenden, hm?”

“Eine Sache, mit der du dich besser auskennen dürftest als ich.”

Aslan war versucht Harukis Schwäche auszunutzen, aber wenn er ehrlich zu sich war, brauchte er ihn ebenfalls. Er konnte nicht über das Dach verschwinden, ohne ernsthaften Schaden zu riskieren, und Haruki war in keiner Verfassung ihn umzubringen.

“Ich bring dich hier raus, wenn du mir erzählst, was du angestellt hast.”

Haruki hob nur eine Augenbraue.

Aslan versuchte es noch mal. “Ich nehme an, Kämpfe werden hier nicht gern gesehen oder nicht? Auch wenn ich kein Yakuzamitglied bin, meine ich mich zu erinnern, dass ein Angriff gegen andere Mitglieder ernste Konsequenzen mit sich zieht.”

Harukis Blick verfinsterte sich. “Du weißt gar nichts.”

Ein Lächeln breitete sich auf Aslans Gesicht aus. Also wollte Haruki wirklich etwas verheimlichen.

“Und gleich zwei Angriffe?” Er nickte zu Hana und Maekawa. “Was das wohl für Konsequenzen mit sich ziehen würde?”

“Was soll das werden? Ein Erpressungsversuch?” Haruki lachte spöttisch. “Ich mach dir ein Gegenangebot. Du hältst deinen Mund, und vielleicht nehm ich dich von meiner Abschussliste.”

“Ich könnte mich auch selbst von der Abschussliste nehmen, indem ich dich hier lasse oder nachhelfe.”

Ausgerechnet jetzt blieb er ruhig. Vor dem Einbruch hatte er noch Sorgen gehabt, aber jetzt, wo er hier mit Haruki allein im Büro saß, ihn wirklich vor sich sitzen sah, war er vollkommen fokussiert. Haruki war nicht unantastbar. Auch wenn er ein nerviger Angeber war, der sich selbst für was Besseres hielt, er war nur ein Mensch. Nur weil er Leute befehligte und mehr Geld besaß, hieß das nicht, dass er weniger verwundbar war.

“Du brauchst mich.” Aslan lachte trocken. Er würde es nicht als Glück bezeichnen, aber seine Realisation gab ihm eine gewisse Leichtigkeit zurück, die ihm seit Anfang dieses Debakels gefehlt hatte. “Da draußen sitzen sehr viele Leute, die allesamt nichts davon wissen, was hier passiert ist. Was werden sie mit dir anstellen, wenn sie erfahren, was hier vorgefallen ist?”

Haruki presste seine Stimme zwischen den Zähnen hervor. “Was. Willst. Du?”

“Ich will wissen, warum du suspendiert bist.”

Haruki richtete sich auf, und auch wenn er am Boden saß, hatte er die Haltung eines Mannes, der es gewohnt war tagein und tagaus andere einzuschüchtern, ob im Gerichtssaal oder im Kampf.

“Ich sag dir jetzt mal, was passieren wird, wenn wir gleich gefunden werden. Leute werden sehen, dass zwei Yakuza Mitglieder am Boden liegen und eins verletzt ist. Glaubst du wirklich, sie würden dir glauben? Du bekommst eine Kugel in den Kopf, bevor du auch nur ein Wort äußern könntest. Und wenn du wegrennen könntest, warum hast du es dann noch nicht getan, hrm? Darin bist du doch gut. Sind dir meine Probleme wirklich wichtiger als dein eigenes Leben? Als ob. Also los. Verschwinde. Wenn du kannst.”

Aslan brauchte eine Sekunde zu lange, um eine Antwort zu formulieren. Haruki war geübter als er in Wortgefechten. Seine Stärken lagen woanders.

“Tot bringst du mir nichts.” Er hörte sich in seinen eigenen Ohren nicht überzeugend an und Haruki witterte Blut im Wasser.

“Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand hochkommt, um zu schauen, warum es so ruhig ist. Unsere einzige Chance, hier raus zu kommen, ist mit einer Ablenkung. Du kannst nicht rennen, also müssen wir Lügen.”

“Wir.” Aslan leckte sich über die Lippen. “Also brauchst du mich doch. Du weißt nicht, ob es nicht auch andere auf die abgesehen haben.”

Haruki sah aus, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. Er fuhr fort, als sei nichts gewesen.

“Wir wissen, auf wen sie zuerst schießen werden. Also, ich hab eine Idee, wie wir hier rauskommen, und du wirst mitspielen oder du wirst es nicht lebend aus diesem Viertel schaffen.”

Aslan wollte erwidern, dass Haruki nicht wusste, ob Leute seine Befehle befolgen würden. Aber Haruki hatte recht. Sie wussten nicht, wem die Leute im Café glauben würden, und Haruki hatte die besseren Chancen.

Aslan knirschte mit den Zähnen.

“Was hast du vor?”

6

“Wenn das hier schief läuft oder wenn du irgendeinen dummen Mist ziehst, dann werd ich-…” Aslan verstummte. Er wusste einfach, dass Haruki hinter seinem Rücken dreckig grinste.

“Was wirst du dann?”

“Halts Maul und mach einfach.”

Haruki entsicherte eine Pistole, und kurz darauf drückte sich etwas Hartes unsanft zwischen Aslans Schulterblätter.

Egal wie oft er in dieser Situation landete, und er landete erstaunlich oft in exakt dieser Situation, er konnte trotzdem nie sein Herz ganz davon überzeugen, dass alles okay sein würde. Es hämmerte ihm tapfer bis zum Hals, und sein Atem beschleunigte sich.

Er nahm einen tiefen Atemzug, dankte seinem Überlebensinstinkt, dass es ihn auf den Pistolenlauf in seinem Rücken aufmerksam machte, und drückte die Türklinke nach unten. Dass Haruki die Pistole entsicherte, ließ ihn hinterfragen, warum er sich auf diesen Plan eingelassen hatte.

Haruki verschwendete keine Zeit und rief so Laut, dass Aslan zusammenzuckte.

“Ich brauch einen Arzt hier oben, und zwar sofort!” Er stieß Aslan unsanft in den Rücken.

Er nahm seine Hände hoch und trat auf den Flur hinaus.

Schritte eilten aus dem Café nach oben, und ein Schwarm an japanischen Wörtern kam ihnen entgegen.

Der Plan war Simpel.

Haruki tat so, als hätte er die Situation unter Kontrolle. Aslan tat so, als sei er geschnappt worden. Mit etwas Glücke waren Leute abgelenkt genug von den Verwundeten und würden nicht hinterfragen, dass Haruki Aslan an einen anderen Ort verfrachten wollte. Was viel darüber aussagte, wie die Yakuza mit Angreifern umgingen.

Aslan hoffte auch, dass Haruki ihn nicht wirklich irgendwo gegen seinen Willen hin brachte, wenn sie es in ein Auto schafften. Sobald sie allein waren, würde Haruki nichts mehr davon abhalten, kurzen Prozess zu machen.

Aslan hatte nicht vor, bis dahin noch anwesend zu sein. Sobald sie hier raus waren, würde er rennen. Rippen in der Lunge trumpften immer noch Kugel im Kopf, aber zuerst mussten sie es vor die Tür schaffen.

Er schritt langsam durch die Menge an Yakuza Mitgliedern, die allesamt ihre Hände an ihren Waffen hatten.

Haruki verteilte weiter Anweisungen auf Japanisch, und da sie noch lebten, gehörten wohl auch nicht alle Leute hier im Café zu Maekawa.

Sie schafften es erfolgreich, die Treppe hinunter und in den Hauptraum.

Aslan entdeckte die beiden Wachen vom Eingang in der neugierigen Menge. Sie warfen ihm wütende Blicke zu. Einer hatte ein Klappmesser gezückt, der andere seine Pistole. Aber sie wagten es nicht, Harukis Gefangenen anzurühren. Aslan wollte lieber nicht wissen, wie hoch der exakte Rang von Haruki unter den Yakuza eigentlich war.

“Haltet sie auf!”

Maekawa tauchte ohne Vorwarnung hinter Balustrade auf, dicht gefolgt von Hana. Trotz ihrer Verletzung eilte sie die Treppe hinunter und richtete, ohne zu zögern, eine Pistole gegen Harukis Hinterkopf.

 Dieser hob eine Augenbraue. „Was soll das Maekawa?“

Eines musste Aslan Haruki lassen, er hatte definitiv Nerven aus Stahl.

Mit aller Ruhe der Welt ließ Haruki seine Waffe sinken und drehte sich direkt zu Maekawa.

Entweder hatte er soeben mit seinem Leben abgeschlossen oder er hatte einen Plan.

Aslan richtete seinen Blick auf die zahlreichen Maschinengewehre, die von der Galerie aus auf sie zielten. Er tippte auf Lebensmüde.

„Lasst Sato-Wagner nicht entkommen. Und den Dieb auch nicht.“

Gemurmel und verwirrte Blicke breiteten sich unter den umstehenden Leuten aus.

Haruki zuckte nur mit den Schultern, als ob das hier nichts weiter als ein gewöhnliches Gerichtsverfahren war. „Und darf ich fragen, auf welcher Basis du denkst, das Befehlen zu können?“ Er hob die Pistole erneut und drückte sie gegen Aslans Schläfe. „Wie du siehst, habe ich die Situation bestens unter Kontrolle.“

Maekawa schnaubte. „Und wie du die Situation unter Kontrolle hast. Hör zu Haruki, ich mag dich.“ Er lächelte gönnerhaft. „Du hast immer gute Arbeit für uns geleistet und bist ein smarter Typ. Also, warum hörst du nicht auf mit dem Schauspiel und hilfst mir hier ein wenig hrm? Immerhin hat es einen Grund, warum du suspendiert wurdest.“

Harukis Gesicht nahm einen neutralen Zug an, aber Aslan stand dicht genug, um zu sehen, wie seine Mundwinkel nach unten zuckten.

Die Leute um sie herum hoben nun doch ihre Waffen und schauten Haruki erwartungsvoll an.

„Worauf willst du hinaus?“

Maekawa grinste wie ein fetter Kater, der eine Maus gefangen hatte. „Ich mache dir einen Deal, und alle hier werden es bezeugen können, damit ich auch mein Wort halte. Du sagst mir einfach, wofür die ganzen Fehlzeiten waren in der letzten Zeit und wo wir das Geld wieder bekommen, was du dir… geliehen hast. Niemand muss verletzt werden.“

Aslan versuchte, einen besseren Blick von Harukis Gesicht zu bekommen, aber einer der Wachen drückte ihm ein Klappmesser an den Hals.

Harukis Schultern strafften sich. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“

Maekawa nickte. „Ich verstehe. Dann tut es mir leid. Ich weiß dann nicht, wie viel ich noch für dich tun kann.“

Aslans Gedanken rasten. Warum würde Haruki Geld entwenden und abwesend sein? Er hatte mehr als genug Geld von seinem Job als Anwalt und wusste, was es bedeutete, mit den Yakuza zu arbeiten.

Es sei denn, er konnte sein offizielles Renraku Konto nicht, anfassen ohne aufzufallen, und hatte einen sehr guten Grund, etwas, was es das Risiko wert war, sich mit den Yakuza anzulegen.

Was, wenn Haruki die ganze Zeit, doch die Wahrheit gesagt hatte? Aslan nahm einen zitternden Atemzug.

„Ich befürchte, ich werde mich in diesem Fall wohl auf mein Recht zu schweigen berufen. Um das Geld kann ich mich kümmern, aber ich befürchte, meine Gründe werde ich für mich behalten müssen.“

Maekawa grinste weit und offen, wohl wissend, dass er Haruki und damit auch Aslan in der Hand hatte. Die einzigen beiden, die von seinem Angriff wussten. Warum verteidigte Haruki sich nicht? Warum sagte er nicht allen die Wahrheit?

Aslan blickte die umstehenden Yakuza Mitglieder an, mit ihren Waffen bereit, sich um den Verräter zu kümmern, wenn sie mussten.

Wer würden ihnen glauben?

Maekawa nickte. „Ich hoffe, das war es wert, Haruki.“

Haruki schloss die Augen. Seine Schultern sanken, und ein trauriges Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Der Blick eines Mannes, der wusste, was ihm blühte.

„Ich fürchte, die Dinge sind eh vollbracht, und andere werden sich um alles kümmern.“ Er blickte zu Aslan.

Und Aslan wusste, dass Haruki die Wahrheit sagte. Er kannte seinen Gesichtsausdruck so gut, dass es wehtat, wusste, wie jemand aussah, der bereit war für seine Geliebten vor eine Kugel zu springen. Für die längste Zeit in Aslans Leben war er auch dazu bereit gewesen.

Haruki Sato-Wagner würde sich für Tim mit den Yakuza anlegen. Und Aslan hatte ihn mit reingeritten.

Hana trat vor und griff nach ihm.

Aslan wusste nicht, wie die Yakuza mit Verrätern umgingen, aber er entschied in diesem Moment, dass Haruki es nicht herausfinden würde.

„Halt!“ Alle Augen im Raum drehten sich zu ihm. Aslan schickte ein Stoßgebet an alle großen Geister, dass sie ihn unterstützten, und öffnete seinen Mund. „Hey man, das ist alles nicht so wild okay? Kein Grund, gleich so dramatisch zu werden!“

Haruki zog verwirrte die Augenbrauen zusammen.

Aslan konnte ihm nur zustimmen. Er wusste nicht, was er erreichen wollte, aber vielleicht konnte er wenigstens die Schuld von Haruki nehmen. Er wandte sich an Maekawa.

„Ich weiß, wo das Geld hin ist und warum er nichts sagt und so. Ist echt nicht seine Schuld.“ Er straffte die Schultern, schob die Hand mit dem Klappmesser zur Seite und trat nach vorn. Wie schlimm konnte es schon werden.

„Vielleicht gab es da so ein bisschen Misskommunikation zwischen Harukis und meiner Crew, und vielleicht haben wir auch seinen Ehemann so ein bisschen, öhm… umgeparkt, aber das sind ja nun echt keine Sachen, für die Leute so viel Stress kriegen müssen, oder?“

Maekawa zog eine Augenbraue hoch.

Immerhin erschoss er Aslan nicht direkt.

„Ist echt nicht seine Schuld, dass er nichts sagen will und so. Wir haben jetzt auch nicht gedacht, dass er verknallt genug ist, um die Yakuza zu beklauen. Wir wollten nur etwas Geld und einen sicheren Unterschlupf.“ Aslan hatte absolut keine Ahnung, was er da von sich gab. Er improvisierte. Immerhin kam ihm gerade eine Idee, was er Maekawa anbieten konnte, damit er zumindest einen von ihnen gehen ließ.

„Wie wär‘s, wir bringen den Ehemann zurück und besorgen irgendwie das Geld, und das muss alles nicht so schlimm enden? Das war echt nicht der Plan, dass dafür irgendwer draufgeht oder so. Wir wollten uns nur was dazu verdienen. Alles easy.“

Haruki sah aus, als sei Aslan ein zweiter Kopf gewachsen.

Aslan fühlte er sich selbst auch genauso verwirrt, wie Haruki aussah.

Hauptsache Maekawa biss an.

„Und übrigens, sorry für den Angriff und alles. Ich dachte, ihr gehört irgendwie zu ihm hier. Kenn mich nicht so aus bei den Yakuza. Kommt nicht wieder vor.“

Hatte er gerade sein eigenes Todesurteil unterschrieben, indem er sich Maekawa als Sündenbock für den Angriff anbot? Vielleicht. Er wusste selbst nicht so ganz, was die exakte Strafe für Angriffe auf die Yakuza waren, aber er würde es wohl herausfinden.

Maekawa nickte. „Entschuldigung angenommen.“

Angebot akzeptiert.

Etwas legte sich in Aslan zur Ruhe.

Er warf einen Blick zu Haruki, der ihn mit dem ungläubigsten Gesichtsausdruck ansah, den Aslan je bei ihm gesehen hatte.

Aslan hob kurz die Mundwinkel.

Maekawas Stimme lenkte ihn ab. „Leider kann ich nicht zulassen, dass ein Angriff auf die Yakuza ohne Bestrafung bleibt.“

Sein Lächeln ließ Aslans das Blut in den Adern gefrieren.

„Ich nehme an, deine Kameraden werden genug Ansporn haben, eure Taten rückgängig zu machen, wenn wir ihnen deinen Kopf als Entscheidungshilfe bringen. Haruki wird sich um den Rest kümmern, wenn er seine Lügen wieder gutmachen will.“

Die Worte registrierten gerade so in Aslans Kopf, als ihm jemand bereits in die Knie trat. Er sackte auf den Boden. Eine raue Hand drückte seinen Kopf auf einen der Teetische. Eine Klinge wurde gezogen.

Jemand trat neben ihn, schnell genug, dass Aslan keine Zeit hatte, einen letzten Gedanken zu formen. Metall schnitt durch Luft.

Nichts passierte.

Die Hand an seinem Kopf verschwand.

Aslan schaute auf.

Hana stand über ihm. Eine ihrer Hände umschloss den Arm der Wache, die Aslans Kopf eben noch auf den Tisch gedrückt hatte. In der anderen Hand hielt sie das Handgelenk eines andere Yakuza Mitglieds mitsamt Katanga fest.

„Maekawa! Wie könnte ihr es wagen?“ Sie drehte sich zu ihm, entschlossen und stolz. „Erst lasst ihr mich ein Mitglied angreifen, und jetzt verurteilt ihr diesen einfachen Dieb? Ich habe eurer Entscheidung vertraut!“ Ihre Stimme hallte durch das kleine Café. Sie zog ihr noch immer blutiges Kurzschwert aus der Scheide. „Maekawa hat den Befehl zum Angriff gegen Yakuza Mitglied Haruki Sato-Wagner gegeben.“ Sie hielt Maekawas Blick, während sie sprach. „Und es wird das letzte Mal sein, dass ihr eure Macht missbraucht. Dafür werde ich sorgen!“

Die Maschinengewehre oben auf der Galerie richteten sich auf sie. Einige der umstehenden wandten sich gegen die umstehenden Mitglieder.

Hana blickte zu Aslan hinunter und zischte ihm zu. „Das hier ist größer als du. Geh.“

Aslan stolperte auf die Beine, als der erste Schuss ertönte.

Kugelhagel regnete auf sie hinab, und jemand packte Aslan am Arm. Haruki zerrte ihn zur Tür.

Eine der Kugeln streifte Aslans Ohr. Die Stelle wurde heiß, aber er ignorierte sie, während hinter ihnen ein Krieg losbrach. Weitere Kugeln sausten an ihnen vorbei und schlugen durch die Scheibe.

Niemand beachtete, wie Haruki Aslan aus dem Café zerrte.

7

Aslan dachte kurz darüber nach wegzurennen, während er mit Haruki in einer Seitengasse stand und auf einen Wagen wartete. Sie beide atmeten schwer, und Haruki musste sich gegen eine Hauswand lehnen.

Ein schwarzer Wagen mit dunklen Scheiben hielt Minuten später vor ihnen.

Die Türen öffneten sich, und Aslan stolperte ungeschickt ins Innere. Sein Bein und seine Rippen schrien auf, als er in das Fahrzeug kletterte.

Haruki folgte ihm.

Sobald sich die Türen schlossen, hob Haruki erneut die Pistole und hielt sie Aslan an den Kopf.

“Wo ist Tim?”

Aslan lachte. Harukis Prioritäten waren klar gesetzt.

Etwas traf seine Wange. Das war heute schon die zweite Backpfeife, die er sich von Haruki fing. Nicht sein Tag.

“Bevor du mich erschießt, kannst du mir eine Frage beantworten?”

Haruki sah irritiert drein. “Kommt auf die Frage an. Und wage es ja nicht, meine Geduld zu testen.”

“Du hast dich mit Tim über den Plan gestritten, nicht wahr?” Aslan beobachtete Harukis Gesicht genau. “Tim wusste, dass du genauso verrückt bist wie jeder Runner.”

Haruki setzte seine Anwaltsmaske auf. Es mochte die Erschöpfung sein oder der Blutverlust oder beides, aber für einen Moment konnte Aslan sehen, dass Harukis Wut wieder aufloderte.

“Wir haben nichts gemeinsam.”

“Oh, da irrst du dich aber, mein Lieber.” Aslan tippte gegen die Pistole. “Und die hier kannst du runter nehmen. Nach heute ist die echt nicht mehr beeindruckend, sorry.”

Haruki schwieg.

Das, was Aslan vorher noch für seinen Gesichtsausdruck gehalten hatte, wenn er debattierte, jemanden umzubringen, sah für ihn jetzt eher nach Schmollen aus. Wenn er das aussprach, würde er sich wahrscheinlich wirklich eine Kugel fangen.

Aslan durchbrach das Schweigen. “Es tut mir leid.” Er leckte sich über die Lippen. “Wir, nein, ich dachte, du wolltest Tim etwas antun, also haben wir ihn woanders hingebracht.”

“Und mit woanders meinst du…?”

“In Sicherheit. Nur nicht hier. Wir können ihn wieder holen.”

Harukis Züge wurden hart. “Und wie ihr ihn wieder holen werdet. Hast du eine Ahnung, was die ganzen Vorbereitungen gekostet haben? Und jetzt muss ich das ganze Geld irgendwie unauffällig von meinem Konto runter bekommen.”

“Oder wir helfen, jemanden zu finden, der einem einen Kredit in den Schatten gibt?” Es war nicht sein bester Vorschlag. Er wusste nicht mal, wie man Kredit buchstabierte, aber er hatte nie behauptet, gut im Planen zu sein.

“Ihr habt genug getan.” Haruki sackte zurück in seinen Sitz. “Ich regel das, bevor ihr Chaoten wieder alles vermasselt.”

Sie verfielen wieder in Schweigen.

Aslan wusste nicht, ob er beruhigt oder besorgt sein sollte, besonders, weil er nicht wusste, in welche Richtung sie fuhren.

Haruki grummelte vor sich hin. “Ich sollte dir wirklich die Ohren abschneiden. Oder irgendwas anderes.” Er lachte bitter auf. “Damit könnte ich deine Lüge besser verkaufen.”

Aslans Magen schlug einen Purzelbaum bei dem Gedanken.

“Würde es das echt besser machen?”

Haruki hob beide Augenbrauen.

Aslan schluckte. “Ich meine, würde es wirklich dabei helfen, dein Problem mit den Yakuza zu beseitigen?”

“Das meinst du doch nicht ernst.” Haruki fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. “Warum musste ich ausgerechnet die geisteskranken Runner beauftragen?”

“Ich habe einen Fehler gemacht und will ihn korrigieren. Wie die anderen dazu stehen, weiß ich nicht.”

Haruki bedachte ihn mit einem langen Blick. Er dachte wahrscheinlich wirklich darüber nach, sich zu rächen, auch wenn es nichts brachte.

Dann seufzte er müde. “Ich will einfach nur, dass Tim wohlbehalten zurückkommt. Das ist die Hauptsache. Danach sehen wir weiter. Ich bin noch nicht fertig mit dir.”

Aslan nickte. “Wenn wir, ich, helfen kann, sag Bescheid.”

“Das werde ich mir noch überlegen. Wie nützlich du sein kannst. Wenn du auch nur einen Anruf von mir nicht annimmst, sorge ich dafür, dass du Einzelteile verlierst.” Es lag keine Hitze hinter Harukis Worten.

Aslan zog einen Mundwinkel hoch. “Aye aye, Captain.”